ZEITENWENDE


Der Begriff „Zeitenwende“ hat viele Facetten und findet Verwendung für die Beschreibung der unterschiedlichsten Ereignisse, die letztendlich immer epochale Umbrüche darstellen. Der Begriff an sich ist hierbei eigentlich ein wenig ungenau, denn es ist nicht die „Zeit“, die sich „wendet“, sondern er charakterisiert einen Wechsel der Position von dem aus die Menschen auf ihre „Welt“ schauen und sie beurteilen. Eine „Zeitenwende“ ist in diesem Sinn daher eher eine „Perspektivenwende“.

In wissenschaftlicher Hinsicht und für die allgemeine Reflexion des menschlichen Standortes in unserer „gegenwärtigen“ Welt sind die folgenden zwei „Zeitenwenden“ von herausragender Bedeutung.

 

1. Die Etablierung des heliozentrischen Weltbildes.

 

Die Erde erscheint aus unserer üblichen Perspektive als flach, und alle von der Erde aus zu beobachtenden und von ihr getrennten Phänomene wie Sonne, Mond, die Planeten und Sterne, scheinen sich um uns, bzw. um die Erde zu drehen. Die Menschen dachten daher lange, die Erde wäre das Zentrum des Universums.

Es war zwar so, daß schon in der Antike verschiedentlich die Vorstellung existierte, die Sonne könnte im Mittelpunkt unserer Welt stehen. Aber erst im 15. Jahrhundert entwickelten und bewiesen Nicolaus Kopernikus, und im weiteren Verlauf Galileo Galilei, Johannes Kepler und Isaac Newton das „heliozentrische Weltbild“, in dem die Erde als ein Planet erkannt und eingeordnet wurde, der die Sonne umkreist. Obwohl diese neue Erkenntnis normalerweise das räumliche Vorstellungsvermögen der Menschen nicht allzu schwer überbeanspruchen sollte, dauerte es einige Jahrhunderte, bis diese Sicht allgemein anerkannt wurde. So konnte sich die katholische Kirche z.B. erst im Jahr 1992 dazu entschließen, Galileo Galilei in diesem Zusammenhang zu rehabilitieren. Von den immer noch existierenden Anhängern einer „flachen Erde“ soll hier nicht weiter gesprochen werden.

 

2. Die Entdeckung der „Raumzeit“ und die „Illusion der Zeit“

 

Am 21.September 1908 (Seite 75 des Jahresberichts s.u.) verkündete Hermann Minkowski die zweite große Zeitenwende in der Menschheitsgeschichte. Sie ist sehr viel schwieriger zu verstehen, da sich ihre Erkenntnisse in unserem bildliches Vorstellungsvermögen nicht fassen lassen. Es wird daher vermutlich unabsehbar lange dauern, bis sie im allgemeinen Bewusstsein“ angekommen sein wird.

 

Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts war die Welt noch in Ordnung. Allgemein anerkannt war das von Newton geprägte mechanistische Weltbild“: der Raum war ein leerer Behälter, und alle materiellen Objekte befanden und bewegten sich in ihm. Die Zeit verstrich gleichförmig ohne unser Zutun und war im ganzen Universum identisch.

Im Jahr 1905 formulierte dann Albert Einstein erst die „spezielle“, und zehn Jahre später die „allgemeine Relativitätstheorie“.

Diese Theorien zertrümmerten die bisherigen Gewissheiten: der Raum war plötzlich etwas: er konnte verformt, gestaucht und gekrümmt werden, und die Zeit wurde zu einem individuellen Phänomen eines jeden einzelnen „Beobachters“, und war abhängig von der Geschwindigkeit, mit der dieser sich im Verhältnis zu anderen Beobachtern durch den Raum bewegt. Raum und Zeit waren nun keine eigenständigen Entitäten mehr, sondern verschmolzen zu der so genannten „Raumzeit“. Auslöser dieser neuen Sichtweise war die Erkenntnis, daß die Lichtgeschwindigkeit für jeden beliebigen Beobachter immer identisch ist.

Eine Konsequenz dieser neuen Theorie war die Notwendigkeit, unsere „Welt“ als eine zumindest vierdimensionale Struktur, als ein sogenanntes „Blockuniversum“ zu betrachten. Das Besondere in einem solchen „Raumzeitblock“ ist, daß alle existierenden „Zeitpunkte“ ohne Anfang und Ende parallel nebeneinander vorhanden sind, und daß alle beliebigen „Ereignisse“, die wir von unserer Perspektive aus als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bezeichnen, immer schon waren, immer sind, und immer sein werden.

 

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind eins.

 

Was ist dann aber die Erscheinung, die wir als „Zeit“ bezeichnen? Man könnte sie vielleicht folgendermaßen definieren:

  • Das als „Zeit“ empfundene Phänomen ist die Bewegung eines Bewusstseins durch die 4. Dimension, in der die existierenden (dreidimensionalen) „Gegenwartsfolien“ wie in einem Daumenkino (allerdings 4-dimensional) abgeblättert werden. Eine so entstehende „Lebenslinie“ entspricht sozusagen einer wurmförmigen Bewegung durch den „Raumzeit-Block“. Durch die Fähigkeit des Beobachters zur Speicherung der hierbei „erlebten“ „Gegenwartsfolien“ als „Erinnerung“ entsteht dann das, was wir als Vergangenheit bezeichnen.

Diese Sichtweise ist für uns Menschen allerdings schwer zu verstehen und zu verinnerlichen, da sie unserer Alltagserfahrung fundamental widerspricht, und unsere verstandesmäßigen Fähigkeiten und unser Vorstellungsvermögen maßlos überfordert. Sogar der Urheber dieser neuen Erkenntnisse, Albert Einstein, konnte zunächst nicht alle Konsequenzen seiner eigenen Theorie akzeptieren. Dies gilt umso mehr und noch in einem viel größerem Umfang für die Gesetzmäßigkeiten, die im Zuge der fast zeitgleich mit der Relativitätstheorie entstandenen „Quantenmechanik“ entdeckt wurden, und die sogar für die besten Physiker weitgehend unverständlich sind.

Auch ist es nach wie vor unklar, was unter einem „reflexionsfähigen Bewustsein“ genau zu verstehen ist, und ebenso wenig gibt es eine Antwort auf die Frage, was die Ursache jener „Bewegung in der Zeit“ ist, die wir als „Leben“ bezeichnen, und die mit dem „Tod“ endet.


„Die Anschauungen über Raum und Zeit, die ich Ihnen entwickeln möchte, sind auf experimentell-physikalischem Boden erwachsen. Darin liegt ihre Stärke. Ihre Tendenz ist eine radikale. Von Stund′ an sollen Raum für sich und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken und nur noch eine Art Union der beiden soll Selbständigkeit bewahren.“

(Hermann Minkowski)

Raum und Zeit - Vortrag vom 21. September 1908

 

Quelle:

Jahresberichte der Deutschen Mathematiker- Vereinigung,

Leipzig, 1908 (veröffentlicht 1909)